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En Famille

Lahsen ist ein eher stiller, zurückgezogener Mensch, mit einer strahlenden Liebe in sich, die ihn mit den Kindern um sich herum verbindet und sie fördern lässt. Meistens hat er das Lachen in den Augen.
Er begrüßt uns an der Pforte seines Hauses im Dorf. Kein Riad aus Tausend und einer Nacht, sondern einer dieser Schuhkartons aus grauem Beton mit der Antenne auf dem Dach. Ein betonierter Vorgarten, in dem buntes Plastikspielzeug mit kaputtem Hausrat konkurriert, empfängt uns. Ich betrete ein eher ärmliches Haus aus dem das Stimmengewirr einer großen Familie dringt, die sich mit Freude wieder sieht. Said hat vergessen mir zu sagen, dass wir zu einem großen Familienessen geladen sind. Im Vorzimmer wogt ein Meer aus Plastiksandalen, dem ich meine pinkfarbenen Trekkingschuhe von Donna Karan hinzufüge. Mit diesem Bild wird mir meine Situation völlig klar. Ich bin hier der totale Fremdkörper. Niemand erwartet mich und ich gehöre nicht dazu. Designerschuhe in einem Meer aus kaputten Plastiksandalen. Paukenschlag. Für alle. Auch für mich. Da es kühl ist, bin ich wenigstens adequat gekleidet. Lange Ärmel, lange Hosen, Schal. Mein pinkfarbener, bestickter Kaftan aus Indien ist zwar auffällig, aber zum Glück eher gerade geschnitten. Mein Körper ist sackartig verdeckt. Ich trage keinen Schleier, das erwartet auch niemand von mir, denn ich bin offensichtlich Europäerin. Hier begegnet mir zum ersten Mal die Sprachbarriere. Die Gäste sind hauptsächlich die Schwestern und Cousinen von Lahsens Ehefrau. Und die Frauen am Lande sprechen meist nur Berber…. Ich verstehe kein Wort. Lahsen sagt etwas in die Runde, die mich fassungslos ansieht. Was macht eine Fremde hier mitten in einem Familienfest? Ich setze mich still in eine Ecke, verdaue meinen ersten Schock und beginne zu beobachten. Lahsen und Said sind verschwunden. Ich sitze hier alleine unter den Frauen der Familie. Alleine gelassen. Leider kann ich nicht fotografieren. Die Gesichter, die Haltungen, die Situationen sind einfach bemerkenswert. Es wären wunderbare Portraits möglich. Zum Glück ist meine Kamera sowieso kaputt. Fotografieren hier wäre der Gipfel der Respektlosigkeit. Mein Herzklopfen beruhigt sich langsam. Natürlich nehme ich die verhaltenen Blicke wahr. Alle sind neugierig. Ich auch. Noch nie habe ich mich so fremd gefühlt. Zum Glück sind alle so höflich, mich nicht unvermittelt anzustarren. Hier ein Blick, dort der Beginn eines Lächelns. Ich beginne die Blicke zu beantworten. Zwei Frauen am anderen Ende des Zimmers fallen mir auf. Alle anderen haben sich beruhigt und beginnen freundlich zu lächeln. Die beiden aber bleiben kühl mit unfreundlich verschlossenem Gesichtsausdruck. Said kommt wieder ins Zimmer und setzt sich zu mir. Ich atme auf.

„Wer sind die zwei auf der anderen Seite?“
„Meine zwei ältesten Schwestern.“
Mein Herz rutscht in die Hose.
„Warum schauen sie so unfreundlich?“
„Nicht unfreundlich. Sie kennen dich eben nicht. Und sie haben dich auch nicht erwartet. Sie brauchen etwas Zeit.“

Ich auch. In meinem Bauch beginnt sich gewisser Groll gegen Said zusammenzubrauen. Wieso stößt er mich so unvorbereitet in diese Situation? Und alle anderen auch? Das Ganze ist so unbedacht. So roh. Aber was soll ́s. Wut ist jetzt hier nicht angebracht.
Es wird Tee gereicht mit wunderbar süßem Gebäck. Wie in jeder Familie, wie in jeder Kultur.

Ich sitze in meiner Ecke und beobachte still. Mit der Zeit tauen alle mehr und mehr auf. Immer mehr freundliche Blicke kommen schüchtern in meine Richtung. Wir beginnen mit Händen und Füßen zu kommunizieren. „Woher kommst du?“
„Aus Wien“.

Als Antwort lächelndes Unverständnis.
„Wo?“
„In Österreich, Europa.“
„Aha“. Ausweichende Blicke, wage Gedanken.
Bevor ich hierher kam, wusste ich auch nicht, wo Zagora lag. Geschweige denn Tamegroute.
Ich denke nach, wie ich es besser erklären könnte. Hoffentlich hat Lahsen einen Schulatlas im Haus. Und tatsächlich. Er hat einen.
Wir sehen gemeinsam nach. Allgemeine Neugier, Aufregung, Worte purzeln durcheinander. Alle wollen zugleich in den Atlas schauen. Ich sehe in lauter lachende Gesichter. Alle sprechen, ich verstehe kein Wort. Doch die Zeichensprache funktioniert.
„Aha, du bist von dort. Und wo sind wir?“
„Ungefähr hier.“
„Warum ist Tamegroute nicht eingezeichnet?“ Allgemeines Unverständnis.
„Du kommst von so weit hierher? Warum?“
„Weil ich es interessant finde. Und wegen Said.“
Viele große, runde Augen. Zunächst Schweigen. Dann Gekicher.
„Ah, wegen dem?!“ Kicher.
„Bist du nicht verheiratet?“
„ Nein, dann wäre ich nicht hier.“ Sie denken nach. Staunen.
„Auch wahr.“
„Und was machst du so?“
„Ich bin Modedesignerin.“
Kichern. Unverständnis. Ich versuche zu erklären. „Ich mache Kleider.“ Augen blitzen auf.
„Aha, Kleider.“ Frauen aller Kulturen vereinigt euch. Das ist unser gemeinsamer Nenner. Das macht uns allen Spaß!
In dem neugierigen Hin und Her fallen mir Saids ältere Schwestern auf. Sie sitzen noch immer auf der anderen Seite des Raumes und halten sich vom neugierigen Kuddelmuddel fern. Sie beobachten mich. Kühl. Ich sehe ihre Körpersprache.
„Schau dir ihre rosa Böck an! Urschiach. Aber bequem. Und praktisch.“
„ Und überhaupt, a Europäerin…“
„ Na i waas net. Brauch ma die?“

„ I glaub net.“
„Naa. Schau ma moi.“
So ist es. Manche Menschen sind neugierig mit offenem Geist. Andere bleiben ablehnend und engstirnig. Jeder hat seine Gründe und Ansichten. Egal in welcher Kultur.
Warme, feuchte Tücher werden gereicht. So waschen wir unsere Hände vor dem Essen. Verlockende Düfte wehen ins Zimmer. Eine monumentale Tagine mit einer Platte warmen Fladenbrotes werden herein getragen und auf einem kleinen Tisch mitten im Raum abgestellt. Alle setzen sich im Schneidersitz kreuz und quer am Boden um die Tagine herum. Es wird eng. Die Tagine dampft. Die Runde spricht ein Gebet. Keine Teller, kein Besteck. Alle beginnen zu essen. Schön und appetitlich mit der rechten Hand. Ich sehe mich suchend um. Abgesehen davon, dass mir nicht immer klar ist, wo links und rechts ist, ist kein Hauch eines Löffels in Sicht. Ich versuche mein Bestes. Das Essen duftet köstlich. Ich habe richtig Hunger. Aber das Essen ist heiß! Ich konzentriere mich. Rechte Hand. Immer. Sonst ist das Essen verschmutzt und alle würden aufhören müssen. Ich will mir die Gesichter gar nicht vorstellen. Autsch, heiß! Ich kann das Essen nicht in die Hand nehmen ohne zu zucken. Couscous, gegartes Gemüse, Fleischstückchen. Ob ich es nun mit oder ohne Brot versuche, mir fällt immer alles auseinander. Wie machen die das alle? Sie essen mit Appetit, entspannt und vergnügen sich an meiner Hilflosigkeit aus den Augenwinkeln. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Würde ich auch tun. Außerdem ist mir völlig bewusst, dass ich in ihren Augen drollig wirke. Ich bemühe mich redlich, das Essen zu bändigen. Meine Verzweiflung steigt.

Nach einer Weile ehrlichen Kampfes mit der Tagine, erbarmt sich Lahsen meiner Situation. Er geht in die Küche und kommt mit Teller und Löffel zurück.
Ich atme auf. Doch er drückt mir nicht einfach nur die Utensilien in die Hand, sondern lädt mir eine köstliche Portion Tagine drauf. Als er sein Werk damit vollenden will, meinen Teller mit schönen Stückchen Fleisch zu dekorieren, findet eine der Schwestern seiner Frau, dass nun die Grenzen der Gastfreundschaft erreicht und überschritten sind.

„Kümmere dich eher um deine Ehefrau! Nicht um einen fremden Gast!“ bellt sie ihm zu. Said übersetzt. Wir essen schweigend weiter. Irgendwann löst sich das familiäre Beisammensein auf. Said möchte noch unbedingt auf den Markt. Gut. Ich folge ihm. Doch ich bin so angefüllt mit dem eben Erlebten, dass ich das Treiben am Markt nur an mir vorbei ziehen lassen kann.

Abends sind wir wieder im Riad. Ali besucht uns. Wir sitzen gemütlich zusammen, plaudern, lachen und trinken den wunderbaren Minztee. Wieder wird mir klar, wie warm und menschlich die Umgebung hier ist. Die Menschen kümmern sich umeinander. Herzlichkeit, Wärme, Freundlichkeit. Die Menschen sind einander zugewandt, miteinander verbunden. Und ich verstehe mich selbst nicht, warum mich der Dreck einer ärmlichen Umgebung immer noch irritieren kann. Ist doch völlig nebensächlich bei all dieser herzlichen Wärme.