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Said in Wien

Said steht etwas verloren am Bahnsteig des Wiener Westbahnhofes. Filigran, erhabene Haltung, lässige Eleganz.
Ein schöner Mann, egal in welcher Welt. Er strahlt eine unglaubliche Ruhe und Zentriertheit aus obwohl er sich
suchend umsieht. Seinen Wüstenkaftan hat er gegen europäische Kleidung getauscht. Beige Cargohose,
cremefarbenes Hemd. Der indigofarbene Chech aber begleitet ihn überall hin. Als er mich entdeckt, leuchtet sein
Gesicht auf. Wir sind beide sehr aufgeregt. Erkenne ich ihn wieder? Erkennt er mich? Vielleicht wirkt die große
Anziehungskraft nur in der Wüste? Seine mandelförmigen Augen strahlen mich mit all ihrer Wärme an. Ich sehe
das vertraute Lächeln. Wir umarmen uns und gehen zum Auto.
„Wie fühlst du dich ohne Galabiya?“
„Jeder Welt ihre Erscheinungsform. Ich will hier nicht verkleidet wirken.“
„Und der Chech?“
„Der Chech ist was anderes. Ohne Chech fühle ich mich nackt.“
Der Nachmittagsverkehr wogt und wir stehen am Gürtel im Stau. Überall Autos und hohe Häuser. In beide
Richtungen. Er ist still und sieht sich um.
Ich überlege unterdessen fieberhaft, was ich ihm als erstes zeigen könnte, um ihn in Wien willkommen zu
heißen.
„Wir fahren auf den Kahlenberg! Von dort aus kannst du dir einen ersten Überblick verschaffen, wo Du die
kommenden Tage verbringen wirst.“
Am Weg vom Parkplatz zur Aussichtsplattform kommen wir an einem großen Oleander vorbei. Er pflückt mir
ein paar Blumen.
„Ich bin nur wegen dir her gekommen. Das weißt du. Oder?“
So. Nun ist es raus. Ausgesprochen. Keine Fehlinterpretation mehr möglich.
„Tu es une vraie Gazelle. Je suis venu, te chercher. Du bist eine echte Gazelle. Ich bin gekommen, um dich zu
holen. Du bist eine starke, klare Frau, die ihren Weg geht. Du weißt, was du willst und was du nicht willst. Nie
wirst du deinen Kopf senken. Ein Mann folgt einer Gazelle nur, wenn er es wirklich will. Ich bin dir nach
Europa gefolgt, um dich zu bitten, deinen Weg mit mir fortzusetzen.“
Ich bin mehr als sprachlos. Ich bin atemlos.
……
Irgendwann kommen wir auf der Aussichtsplattform des Kahlenberges an. Der Blick von der Hainburger Pforte
bis zum Schneeberg bei klarem Wetter ist legendär. Wir haben Glück. Im Licht der strahlenden Sonne meandert
sich die Donau glitzernd durch das Bild. Und ganz Wien liegt gut sichtbar zu unseren Füßen. Das Häusermeer,
aus dem die berühmten Highlights ragen.
„Schau, da ist der Stephansdom. Genau, der große dunkle Turm im Gewimmel der Häuser. Und dort ist das
Riesenrad. Ja, einfach ein Rad, größer als alles. Mittendrin. Wozu? Zum Spaß. Und dort drüben in dem großen
Park liegt Schönbrunn. Nein, das, wo du gerade hindeutest, nennt sich Belvedere, ist aber auch ein Palais. Wir
werden uns all das aus der Nähe ansehen, wenn du es möchtest.“
„Ihr habt hier auch Wüste!“
„Was! Wo?“
„Da drüben!“
„Nein, das ist das Marchfeld.“
„Aber das ist gelb!“
„Das ist Weizen.“
„Was? So viel? Was macht ihr damit?“
„ Essen! Schau. Hier leben 1,7 Mio. Menschen. Die essen das. Und noch viel mehr.“
„Ah!“
Nach dem Kahlenberg fahren wir in die Innenstadt. Er will die Stadt und mein Atelier sehen.
Ich parke mein Auto, wie so oft, hinter dem Burgtheater und wir gehen Richtung Volksgarten. Im Park
schlendern wir an den duftenden Rosenbüschen vorbei und er kann sich gar nicht satt sehen und riechen an
seinen Eindrücken. Die Kombination der gepflegten Pflanzen im Park mit den dahinter aufragenden Bauten der
Ringstrasse haben es ihm angetan. Er nimmt genüsslich auf einer Parkbank Platz. Alleine die Idee Parkbänke
aufzustellen, damit man all diese Schönheit in Ruhe auf sich wirken lassen kann, beeindruckt ihn. „Ihr habt hier
wirklich gute Ideen. Es ist alles so ruhig, geordnet und übersichtlich. So sauber! Und so wenig Menschen. Ich
mag das!“ Er sitzt auf seiner Bank und genießt den Blick auf den Park. Das Parlament, das Rathaus, das
Burgtheater winken durch die Wipfel der Bäume und der Theseustempel blinkt durch die Büsche. Wir gehen
weiter, queren die Burg und kommen zum Michaelerplatz. Said ist fasziniert von den imposanten Statuen, die
dramatisch die Wasserfälle in den großen Brunnen neben dem Burgtor in Szene setzen.
Wir gehen weiter Richtung Dorotheergasse.
„Sind eure Häuser alle aus Stein?“
„In der Innenstadt meistens.“
„Und wie lange stehen die schon da?“
„Durchschnittlich 300 Jahre.“
„Was, so lange?!“
Schweigend spazieren wir weiter. Said ist in seine Gedanken vertieft.
Schon im Park sind mir die Blicke der Leute, die uns entgegen kommen aufgefallen. Ich habe mit diesen
abschätzigen Blicken gerechnet, mit denen immer wieder Paare verschiedener Kulturen bedacht werden. Weit
gefehlt. Manche haben uns sogar angelächelt. Unfassbar. Strahlen wir beide so? Vielleicht. Wir betreten das
Haus, in dem mein Atelier ist. Ein denkmalgeschütztes Jugendstilhaus aus 1912 mit historischem Aufzug aus
Holz, goldener Schnörksel und geschliffenem Glas.
„Ist das ein Lift?“
„Ja.“
„Wozu braucht ihr den?“
„Das ist ein kleiner Raum, der zwischen den Etagen herumfährt. Dann muss man nicht immer zu Fuß gehen.“
„Ah, stimmt. Ihr wohnt ja übereinander. Nicht nebeneinander.“
Eine Sicht, die mir nie in den Sinn gekommen wäre.
Wir kommen in mein Atelier. Er sieht sich um.
„Mir war klar, dass du fähig bist. Ich wusste aber nicht, wie sehr.“
Ich nehme seine Feststellung als Kompliment und bin sehr stolz darauf.
„Was ist ein Kino? So etwas möchte ich sehen!“
Ok. Kein Problem. Der Wiener Sommer produziert gerade um die 40C° mit drückender Schwüle und ich sehe
uns nicht wirklich in einem kleinen, dunklen, stickigen Raum. Doch gibt es ja in Wien die „Kinos unter
Sternen“. Im im Programm sehe ich, dass wir den einzigen Film in französischer Originalfassung gerade
verpasst haben.
Das hätte uns aber auch nicht viel genützt. Denn ein Spielfilm ist eine zu Symbolen kondensierte Geschichte, die
in unseren Köpfen emotional entpackt wird. Damit das funktioniert, braucht es in den Köpfen der Zuschauer all
die Geschichten und Informationen aus unseren Kulturen und die damit verbundenen Emotionen. Sogar die
Kindermärchen sind wichtig.